Vom „Kielschwein“ zur rasenden Sau: Trainingsstunde beim Yacht-Club Celle
Foto: Oliver Knoblich
„Deine Badehose kannst Du zu Hause lassen. Unsere Boote kentern nicht.“ Auf dem Weg zum Celler Hafen rufe ich mir die Worte von Ulf Ziesenis, Sportwart beim Yacht-Club Celle, ins Gedächtnis. Das beruhigt ein wenig. Ich bin schon mal auf der Örtze gepaddelt (mit Kentern) und an der Nordsee auf meiner Luftmatratze im Meer rumgedümpelt (auch mit Kentern). Aber mit einem ausgewachsenen Außenborder „unterm Hintern“ als Kapitän und Steuermann in einer Person durchs Hafenbecken am Schützenplatz pflügen?
CELLE. Das flößt mir Respekt ein. Doch eine gute Stunde später heize ich mit 21,6 Knoten (40 Stundenkilometer) zwischen vertäuten Motorjachten und Ausflugsdampfern hin und her, rangiere rückwärts durch Bojen-Tore und winke fröhlich meinen „Ausbildern“ am Ufer – als plötzlich die Kaimauer rasend schnell auf mich zufliegt (oder ich auf sie?)
Doch zurück zum Anfang meines nassen Abenteuers: Da hieß es nämlich „Sicherheit geht vor“: YCC-Jugendleiter und -Trainer Rainer Wöhlk legt mir quasi zur Begrüßung eine Schwimmweste an. Behilflich ist ihm Tjade Enskonatus. Der 17-Jährige aus Hohne ist einer von sieben Jugendlichen, die beim Yacht-Club Motorbootfahren als Wettkampfsport betreibt. Dabei muss mit dem Schlauchboot ein Parcours abgefahren, an der Schikane ein Rettungsring von einer Boje gehoben und wieder darauf platziert und Wendemanöver absolviert werden – natürlich auf Zeit. „Wichtiger ist aber die Geschicklichkeit. Jede Bojenberührung gibt zehn Sekunden Zeitstrafe“, erklärt Wöhlk. Enskonatus gibt mir eine Runde Anschauungsunterricht in Perfektion. Jeder Handgriff sitzt. Kein Wunder: Der Junge ist amtierender Deutscher Vizemeister in seiner Klasse.
Die Einstiegshürde
ist denkbar niedrig
„Du fängst erstmal klein an“, sagt Wöhlk zu mir. Heißt: Ich drehe meine erste Runde durchs Hafenbecken als „Kielschwein“ von Malte Bröker. Der Zwölfjährige aus Südwinsen ist seit vier Jahren dabei und wurde vergangenes Jahr Dreizehnter der Deutschen Meisterschaften auf dem Wannsee. Weil er aber noch keine 16 ist, muss ein Erwachsener bei seinen Fahrten im Bug liegend mitfahren, während Malte das 6-PS-Boot im Heck per Pinne steuert. Und das bin diesmal ich – das „Kielschwein“ eben.
Das kleine Schlauchboot ist ziemlich flott unterwegs. Malte umkurvt präzise alle Bojentore und gleitet ins Ziel. „Sehr gut“, lobt Wöhlk. Seine Schützlinge trainieren im Celler Hafen sowie an der Schleuse in Oldau. Der Bojenparcours muss jedesmal aufwendig auf- und abgebaut werden. „Da haben es andere Klubs in Deutschland leichter“, sagt Sportwart Ziesenis. Trotzdem gehören die Celler seit vielen Jahren zu den Besten ihrer Disziplin – bis hin zu Erfolgen bei Weltmeisterschaften. „Da räumen aber besonders die Starter aus Malaysia regelmäßig ab“, erklärt Wöhlk. Kein Wunder: In dem asiatischen Land ist das Geschicklichkeitsfahren mit dem Motorschlauchboot ein Schulfach. In Niedersachsen ist der Yacht-Club Celle, der vor mehr als 40 Jahren gegründet wurde, der einzige Verein, der diesen actionreichen Sport wettkampfmäßig betreibt. Deshalb sind Landesmeisterschaften für die Celler bessere Clubturniere. Obwohl der Hafen zentral liegt, hat auch der YCC Nachwuchsprobleme. Dabei ist die Einstiegshürde denkbar niedrig: „Eine eigene Schwimmweste und feste Schuhe müssen die Jugendlichen mitbringen – den Rest stellt der Verein“, erklärt Ziesenis. Der Jahresbeitrag für Kinder ist mit 24 Euro bewusst gering gehalten.
Boote erinnern an
schwärzeste Stunden
Jetzt darf ich an die Pinne. Wöhlk ist mein „Kielschwein“ und unsere zusammenaddiert 185 Kilogramm Lebendgewicht (der größere Anteil geht auf meine Kappe) machen dem kleinen Kahn zu schaffen. Trotzdem macht es einen Heidenspaß und die Steuerung funktioniert instinktiv. Mit bis zu 15 Stundenkilometern steuere ich die „Werner“, benannt nach dem langjährigen, 2013 verstorbenen Vereinsvorsitzenden Werner Leineweber, durch die Fluten.
Doch ich will mehr. Mehr Power, mehr Tempo, mehr Adrenalin. Wir steigen um in die „Steffen“. 15-PS-Außenborder, Lenkradsteuerung, insgesamt etwas massiger – und schneller. Wie bei einem Motorrad sitze ich zunächst als Sozius hinter Wöhlk. Er zeigt mir, wie man Gas gibt. Sogar einen Rückwärtsgang gibt es. Der 60-Jährige hat die „Steffen“ voll im Griff. Auch dieser Bootsname hat einen traurigen Hintergrund: Das Boot ist benannt nach dem verstorbenen Sohn Rainer Wöhlks. Der im Alter von 21 Jahren bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte war mehrfacher Europa- und Weltmeister. „Steffen war eines der sportlichen Aushängeschilder unseres Vereins“, erzählt Sportwart Ziesenis später. Und so erinnern die Boote auch an die schwärzesten Stunden des Clubs. Denn nur ein Jahr nach dem Verlust des Vorsitzenden und des größten Talents verlor der Yacht-Club 2014 beim Großbrand im Hafen alles – von den Booten bis zum Clubhaus. Nach Wiederbeschaffung der Boote bekamen die neuen Modelle ihre aktuellen Namen. Und so stehen die „Werner“ und die „Steffen“ auch für einen Neuanfang.
Wöhlk legt unweit der Hafentreppen, auf denen es sich ein paar Jugendliche in der Sonne gemütlich gemacht haben, an und steigt aus. „Jetzt bist du dran – alleine“, ruft er mir zu. Ich greife ans Steuer und schiebe den Gashebel nach vorn. Der Motor blubbert los. Ich fühle mich wie in einem Autoscooter – das Schlauchboot ist schließlich auch rundherum gepolstert. Im Schritttempo peile ich das erste Tor an. Verdammt, das ist enger als gedacht. 2,50 Meter liegen zwischen den beiden signalroten Bojen – mein Gefährt ist 1,85 Meter breit. Und zack, touchiert. „Zehn Sekunden Strafzeit“, ruft mir Wöhlk feixend vom Ufer zu.
Und dann ist da
plötzlich diese Kaimauer
Um es kurz zu machen: Auf meiner Fahrt durch den Parcours bollere ich gegen jedes erdenkliche Hindernis, beim Rückwärtsfahren würge ich den Motor ab und bei der Schikane (mit dem schönen Namen „Mann-über-Bord“) bekomme ich den rot-weißen Rettungsring zwar zu fassen. Beim Versuch, ihn wieder über den Pfahl zu stülpen, gleitet das Mistding aber ins Wasser. „Lass schwimmen, holen wir nachher wieder raus“, höre ich Ziesenis rufen. Inzwischen haben sich ein paar Neugierige am Steg versammelt. Lachen die etwa?
Na gut, denke ich. Geschicklichkeit ist offenbar nicht so mein Ding. Aber Tempo machen, das kann ich. Ich fahre heraus aus dem Hafen und biege in die vorbeifließende Aller ein. Eine gekonnte 180-Grad-Wende und das Hafenbecken liegt wie eine Spielwiese einladend vor mir. Ich drücke den Gashebel bis zum Anschlag, der Bug schnellt aus dem Wasser, ich ziehe eine Gischtschneise hinter mir her. Ein Entenpaar flattert aufgeschreckt davon. Ich sause an der abgetakelten „Allernixe“ vorbei, lasse die „MS Loretta“ hinter mir und genieße das Auf und Ab der Wellen. Und dann ist da plötzlich diese Kaimauer.
Ich reiße das Steuerrad herum und – nichts passiert. Das Boot rast geradeaus weiter auf die Mauer zu. Wieder kommen mir Ziesenis‘ Worte in den Sinn: „Unsere Boote kentern nicht.“ Da fällt mir ein, dass er etwas angefügt hatte: „Aber man kann trotzdem über Bord gehen.“ Denn nun gibt es einen Ruck und der Motor reißt das Boot herum, dass mich die Fliehkräfte fast abwerfen. Ich kralle mich mit einer Hand am Lenkrad fest und ziehe mit der anderen hastig den Gashebel zurück. Sofort verlangsamt sich die Fahrt. Das war knapp. Beinahe mit Standgas tuckere ich zur Anlegestelle. „Na, war‘s schön?“, fragt Wöhlk. Ich nicke stumm. „Du warst ganz schön flott unterwegs“, sagt er. Innerhalb einer guten Stunde vom „Kielschwein“ zur rasenden Sau – bei den Jungs vom Yacht-Club ist das kein Problem.
Autor: Heiko Hartung
Quelle: Cellesche Zeitung